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Anti Opferrolle: der ungeschönte Blick in den Spiegel

Aktualisiert: 20. Sept. 2021



War ich schuld? War es Vergewaltigung?!


Nein, eine Heldin ist man nicht, auch wenn man bewusst oder unbeabsichtigt aus dieser Rolle heraussteigt, ablehnt oder neutral betrachtet. Doch was machen Geschichten des Lebens aus mir? Oder was macht meine Haltung derer aus mir?


Ich sitze auf dem schwarzen Sofa, der Raum ist freundlich und hell, die Bodendielen aus echtem Holz. Das Tram rauscht draussen vorbei, während ich meinen grossen Durst mit Wasser zu löschen versuche.

Immer bei innerer Prozessarbeit trinke ich bewusst viel stilles Wasser. Doch Heute ist meine Kehle trockener als sonst… Ich bin inmitten einer Sexological Bodywork-Session, doch diesmal als Klientin. Zum Ausbildungsverfahren gehört dazu, dass man unter anderem auch bei ausgebildeten SexBods (wie wir Sexological Bodyworker abgekürzt nennen), Sessions als Klienten besuchen. Nicht aus Spass oder so zum ein wenig zu gucken, wie das so ist. Sondern um zu erleben, wie es ist, wenn der Coach den Klienten nicht wie ein Fisch entwischen lässt. Sondern mit ihm Zwiebelschale für Zwiebelaschale ablegt um an die Essenz zu kommen.


Das Wasser rinnt wohltuend meine Kehle runter. Ich stelle das Glas auf dem Beistelltisch ab und ziehe wie so oft, mein Bein wie bei einem Schneidersitz an mich heran. In dieser halb offenen Pose, schütze ich doch meine Genitalien. Dies machen Frauen oft, indem sie (unbewusst) die Beine übereinanderlegen, Verschränken oder Hände auf ihre Mitte legen.


Oberthema

In die Praxis zum sexologischen Körperarbeiter kam ich, weil ich meine Abneigung gegen meine eigenen Schamlippen ablegen wollte. Bäh, das Wort «Scham.-Lippen» befremdet mich bereits… Interessanterweise kann ich im Beruf gut fremde Labien, wie die unteren Lippen auch heissen, berühren. Das macht mir nicht viel aus. Doch privat habe ich in der Zeit seit meiner Reise zu SexBod festgestellt, dass ich unbewusst eine Abscheu gegen meine eignen inneren Lippen habe und noch mehr gegen behaarte Labien.

Als ich in den Vorort-Unterricht feststellte, dass entgegen meinem Modevorstellungen nun wieder rund 70% der Menschen ihre Intimbehaarung spriessen lassen, war ich schockiert.

Natürlich, jeder Modetrend kommt – und geht. Doch dass gekraustes Haar wieder im Schritt wächst und als sexy begrüsst wird, war an mir vorbei gegangen, oder hatte ich gar verdrängt…

Nun, Mode hin, Mode her, mein Thema war jedenfalls fakt. Arbeiten konnte ich problemlos doch, wenn ich ohnehin ein selbstgewähltes Thema bei einem Profi lösen sollte, dann eben dieses. Es würde mir ja auch im Beruf und sicherlich in der eigenen Sexualität und im eigenen Selbstbild von Nutzen sein…


Mein Coach gibt mir Raum, schaut mich direkt mit wohlwollendem Blick an und wartet. Ich spüre wie die Gedanken in meinem Kopf wirbeln. Fast so, wie wenn eine Flipperkasten-Kugel ungehindert von Hindernis zu Hindernis hinunter kullert, fällt und sich den Weg nach unten zum Schlitz bahnt.

Ich räuspere mich. «Nun ja…» suchte ich die ersten Worte, «wenn es nicht nur sexuelle Gewalt war, dann war es Vergewaltigung». Hörte ich mich klar und deutlich aussprechen.


«Wie geht es dir, mit diesen Worten?» will mein Therapeut wissen.


«hm…», ich schwieg, schloss die Augen und spürte, wie ich es gelernt hatte, in meinen Körper hinein. «Ich spüre Wärme, Beklemmung, Trauer».


«Und Wut?!» fragt er mich.


«Nein, oder nicht direkt. Die Trauer ist stärker» und Tränen schiessen in meine Augen.

Ich atme tief, habe aber nicht das Gefühl, dass mich die Trauer übermannt. Ich lasse sie da sein, die darf Platz haben.



Nein ich nicht

Mit 16 sowie rund 15 Jahre später hatte ich Gewalt erlebt. Nicht direkte, so dass ich geschlagen wurde, auch keine Verbale. Sie war anderer Natur.

In der Session erzähle ich meinem Coach davon:

«Mit welcher soll ich beginnen?!


«Mit der, der du willst» antwortete mein Leiter.


So begann ich zu erzählen: «Er lag auf mir, ich war nackt… Doch zuvor hatte er alle Kumpels mitsamt dem Alkohol aus dem Hotelzimmer geworfen, die Tür geschlossen. Ehe ich mich versah, küsste er mich. Er war gross, breitschultrig und betrunken. Wir hatten selbstgemachten Sangria mit billigem Fusel notdürftig zusammengemixt und feierten unseren Schulabschluss. Dass er etwas von mir wollte, war mir nie aufgefallen. Vielleicht hatte er nur die Gunst der Stunde genutzt». Erzählte ich dem Coach.

«Er zog mir mein Sommerkleid in einer Handbewegung aus, drängte mich mit seinem massigen Körper zum Bett und legte sich auf mich. Seine Zunge drang tief in meine Mundhöhle. Ich roch den Kochwein, hörte sein Stöhnen nahe an meinem Ohr und wurde von seinen beinahe 90 Kilo in die Matratze gedrückt.

Er legte sein ganzes Körpergewicht auf mich, denn er war zu betrunken sich daran zu erinnern, dass ich, die nur halb so schwer war wie er, kau atmen konnte unter der Last seines schlaffen Körpers.


Obwohl es offensichtlich war, realisierte ich erst jetzt, dass ich ihm schutzlos ausgeliefert war. Seine unbeholfenen Finger gruben sich zwischen unseren Körpern hindurch, in meinen Slip hinein. Mit dem Handrücken zog er diesen nach unten, so dass er mit den Fingern an meinen Schamlippen hindurchwuseln konnte. Er rieb an meinem Kitzler und sogleich drang er mit den Fingern in mich hinein.»


«Was hast du dabei gefühlt?!»


«Eckel, Atemnot. Seien eiche Zunge die so riesig war… Fremde Finger in mir, ohne Vorwarnung in mich hineinstossend. Ich dissoziierte so weit es mir möglich war.»


«Die Frage war, was du gefühlt hast»


Ich schweige und versuche mich zu erinnern. Zu lange hatte ich diese Geschichte verstauben lassen. Sie war in meinen Augen höchstens eine Story die eben passiert war. Nicht mehr…

«Wut. Auf ihn und mich. Er hatte mich ja nicht Mal gefragt! Auf mich, weil ich nicht schnell genug realisierte was abging und nun fast unter seinem Gewicht erdrückt wurde. Eckel. …Eckel vor seinen Fingern in mir, dem Weingeruch aus seinem Mund, der gierigen Zunge in meinem Mund.»

«Was noch?!»


«Scham! Scham vor den anderen Mitschülerinnen, die mich durch die Fenster im Innenhof des Hotels sahen. Ihre Blicke waren so…. Verstört, Bemitleidend und Sensationslüstern.»


«Was geschah weiter?»


«Ich wollte um Hilfe rufen. Aber um ehrlich zu sein, weiss ich heute nicht mehr ob ich es tat. Es ist zu lange ehr. Zu verschwommen…»


«Passierte etwas?!»


«Nun, er machte eine Weile so weiter und ich versuchte ihn mit meinen Armen wegzurücken. Doch er war zu schwer. Seine Zunge nahm mir die wenige Luft die ich bekam. Es drehte sich langsam alles. Vom Alkohol, der enormen Hitze des Hochsommerabends, von seinem Körpergewicht, seinem schlechten Atem, den Mund voll zu haben und… dem Ekel».


«Konnten dir die Frauen nicht helfen?!»


«Ich weiss es nicht. Nein, sie sahen nur zu. Die Zimmertür war ja verschlossen.»


«Und die kamst du aus der Situation heraus?!»


«Meine Zimmergenossin polterte so lange an die Tür, bis er genervt aufstand und wankend die Tür aufschloss. Sie schrie ihn an, packte mein Kleid vom Boden, zog mich am Arm vom Bett hoch, drückte es an meinen Bauch, damit ich es hielt und zerrte mich aus dem Zimmer…

Während sie mich über durch den Hotelflur zog, musste ich mich halbwegs übergeben. Sie liess jedoch nicht locker und verfrachtete mich in unser Zimmer.»


«Warst du da sicher?»


«Ja. Aber ich weiss nur noch, dass mir elend war. Elend von dem geschehenen. Ihre Rettung ging so schnell. Die Teppichmuster am Boden liessen meinen Schwindel noch mehr ansteigen. In Sicherheit unseres Zimmers schob sie mich direkt ins Bad, wo ich mich das erste Mal im Leben wegen Alkohol übergeben musste.


«Lag es nur am Alkohol, oder am geschehen?!»


«Wohl an beidem… Sie wartete im Zimmer, während ich über der Schüssel alles von mir gab, was kam. Dazwischen klammerte ich mich an die Toilettenschüssel und lallte erniedrigt und betrunken meinen Dank für die Rettung und wie peinlich mir alles wäre…

Irgendwann stand ich auf und liess mich auf das Bett fallen. Kauerte mich in besudelter Unterwäsche zusammen und viel in eine Art Ohnmacht.

Als ich erwachte war es dunkel. Ich war alleine im Zimmer und hatte keine Ahnung wo meine Freundin war. Die Erinnerungen an das Geschehene kamen hoch und mir wurde übel. Die Strassenlampen erhellten den kleinen Raum, so dass ich mich and en Wänden abstützend den Weg zum Bad schwankend bis zur Toilette fand, wo ich mich erneut mehrere Male übergeben musste. Ich war angewidert… Als es vorbei war, setzte ich mich in die enge Badewanne, liess kühles Wasser auf mich herabfliessen, zog den Slip aus und weinte. Ich weinte um das was passiert war.

Auch wenn er nicht mit seinem Penis in mich drang, so sah ich immer wieder die entsetzten Gesichter der Frauen am Fenster gegenüber.


Ich hatte es den Lehrern nie erzählt und ihn auch nicht angezeigt.»

«Warum nicht?!»


Nun, wir waren im Ausland, auf der Abschlussfeier und ich hatte weder die Kraft, noch Lust an einem Fremden Ort einen Kumpel für lange Zeit vor der gesamten Schule zu demütigen».